Ostpreussen - eine Reise in die Vergangenheit
Neun Tage Programm, und was für ein Programm war das, zu dem die Reisegruppe um
den Trakehnen Verein
Ende August antrat!
Mit dem Fährschiff ging es von Kiel über die Ostsee ins littauische Memel (Klaipeda),
von dort übers Haff auf die Kuhrische Nehrung, eintauchen in eine Landschaft wie
der Unkundige sie sich wohl kaum schöner hätte vorstellen können. Die Seeküste
erinnert an Sylt, die Küste zum Haff bezaubert durch pitoreske Fischerdörfchen
von urältestem Charme. Im malerischen Dörfchen Nidden ist noch heute das
einstige Feriendomizil des Schriftstellers Thomas Mann zu besichtigen.
(reichlich sehenswerte Fotos zu allen genannten Schauplätzen gibt es
hier)
Das
Überschreiten der Grenze nach Russland ist der Eintritt in eine völlig andere
Welt.
Brachliegende, unbestellte Felder, verstrauchte Landschaft so weit das Auge
reicht. Die einstige Kornkammer des preussischen Reiches wildert dahin. Der
Pregel mäandert unberührt durch die Landschaft und verschafft ihr wertvolle
ungenutzte Fruchtbarkeit. Wo früher stolze Rösser und satte Viehherden weideten
grasen heute vereinzelt angekettete Rinder neben versprengten Wohnhäusern oder
Ruinen. Wehmut und Trauer.
Dieses Land hätte so viel zu bieten, und doch ist der
Verfall offensichtlich und tut weh.
Wie wird es uns wohl in Trakehnen ergehen?
Über Königsberg und Insterburg fiebert jeder dem Tag entgegen, an dem es endlich zur Perle der einstigen ostpreussischen Pferdezucht geht - dankbar sind wir jedes Mal aufs Neue wenn Klaus Hagen, unser mitgereister Ostpreusse, zum Mikrofon greift und aus Erinnerungen seiner Jugend erzählt, je näher wir Trakehnen kommen. Die lange Allee zum Mittelpunkt Trakehnens ist längst erreicht, es holpert und poltert, der Bus ächzt in manch einem Schlagloch der kaum befestigten Strasse. Ach, wären es doch nur die Schlaglöcher...
Herr
Hagen nennt Gebäude und ihre einstigen Funktionen, in ihrem heutigen Zustand
kaum wieder zu erkennen. Wir überqueren den Pissakanal, oft zitiert als
unbedingter Bestandteil der berühmten Trakehner Jagdgesellschaften, die Fahrt
geht durch dichten Baumwuchs, plötzlich strahlt das weisse Trakehner Tor vor uns
- es suggeriert eine längst vergangene Herrlichkeit. Der Bus kommt vor dem
Landstallmeisterhaus zum stehen, das "Schloss", in dem heute eine Schule
untergebracht ist. Wir purzeln in den Park. Dichte Eichen haben sich hier ihre
Herrschaft erhalten, das Blattwerk täuscht malerisch über die dahinter liegenden
Wohnhäuser hinweg. Frei und ganz sicher lebensfroh stolzieren hier heute die
Hühner umher - ein stolzer Gockel mittendrin.
Unwillkürlich muss ich an Iwan, unseren Reiseführer denken...
Der
Empfang im Schloss ist herzlich, alte Bekannte werden umarmt und "gebutscht",
dank des fleissigen Deutschlehrers Ivan Kuznetsov klappt die Verständigung
reibungslos. Mitunter spielt die Sprache aber auch gar keine Rolle, es gibt
Dinge, die gehen einfach tief unter die Haut, ganz egal in welcher Sprache:
ein solches "Ding" war der Gesang von Anja, Schülerin in Trakehnen und mit einer
Stimme gesegnet, die ihresgleichen sucht. Anjas Intonation vom Ännchen von
Tharau lies Gläser surren und Tränen kullern - so schön. Die Affinität zum Lied
war seit dem Besuch in Klaipeda (hier war das Ännchen von Tharau Denkmal besucht
worden und man hatte die Geschichte der braven Pastorentochter kennengelernt)
bei der gesamten Gruppe vorhanden, Anjas einmaliger Gesang tat sein übriges -
Emotionen nationenübergreifend und auch die gestandenen Herren unter den Gästen
rieben sich verstohlen die Augen. Selten dürfte der kleine Museumsraum im
Landstallmeisterhaus in Trakehnen einen solchen Applaus gehört haben, es wollte
gar nicht wieder aufhören zu klatschen, man war berührt.
Das sind die Momente, dafür lebt man wohl.
Anlässlich
des Besuches aus Deutschland werden die gerade neu und mit viel Liebe erstellten
Porträts der diversen Landstallmeister von Trakehnen erstmals öffentlich
präsentiert - sie werden künftig eine anschauliche Bereicherung für das Museum
darstellen.
Der Rundgang durch das kleine Museum beschliesst den Hausbesuch im
Landstallmeisterhaus, die Gruppe verteilt sich auf dem Gelände, der gelebten
Geschichte auf der Spur.
Nachtigallengesang
Passend an dieser Stelle ein Auszug aus dem Artikel "Trakehnen
ist wieder eine Reise wert!" von Dr. Horst Willer:
"Dass Trakehnen nun die offizielle Ortsbezeichnung Jasnaja Poljana trägt ist nur
eine Äußerlichkeit. Auch dass auf den weitläufigen Weiden Trakehnens seit
Kriegsende keine Pferde mehr weiden ist bekannt. Aber nur wenig von dem, was die
Größe, den Glanz und die Einmaligkeit jenes Paradestücks der Preußischen
Gestütsverwaltung ausmachte, ist noch übrig geblieben oder nur noch in der
Grundstruktur und in Spuren sichtbar. Auch heute noch führt eine
Hauptzugangstraße über den Pissa-Kanal, jenes spektakuläre Hindernis, das so oft
während der Trakehner Jagden durchquert werden musste. Von den Ufern her ist der
ehemals funktionsfähige Entwässerungskanal total zugewachsen. Die nicht mehr
intakten Dränagen und Grabensysteme haben im Zeitablauf aus den ehemaligen
fruchtbaren Weiden, Wiesen und Äckern großflächige Feuchtbiotope und
Brachflächen entstehen lassen. Die am Bahnhof Trakehnen beginnende fast sechs
Kilometer lange und mit alten knorrigen Eichen bestückte Allee hat die Zeit
überdauert. Das Vorwerk Bajohrgallen, an dem sie vorbeiführt, ist nur noch durch
einige Mauerreste erkennbar. Ein ähnliches klägliches Bild bieten mit Ausnahme
des Vorwerks Kalpakin, wo einst die viel gerühmte braune Herde stationiert war,
viele andere Vorwerke. Da einige von ihnen bereits während der letzten
Kriegshandlungen in einer Hauptkampflinie gelegen haben, sind sie bereits gegen
Ende des Krieges fast vollkommen zerstört worden. Aus der ehemaligen Sowchose in
Jasnaja Poljana ist nach der Wende eine Agrargenossenschaft entstanden. Deren
Rindviehbestände sind in den noch teilweise vorhandenen aber baufälligen
ehemaligen Stuten- und Fohlenställen sowie dem legendären Auktions-und
Jagdstall, die innen wie außen großen Schaden genommen haben, mehr schlecht als
recht untergebracht. Die Sommerresidenzen der Hauptbeschäler können nur noch in
ihren Grundmauern ausgemacht werden.
Der legendäre Gasthof Elch ist als Lagergebäude unversehrt geblieben, ebenso die
ehemalige Apotheke, die später zum Gasthaus umfunktioniert wurde. Auch das
Trakehner Tor und das Landstallmeisterhaus, deutlich gezeichnet durch den Zahn
der Zeit, sind heil geblieben und können trotz aller Wehmut, die viele Besucher
am Ort überkommt, wieder zumindest für kurze Momente freudige Blicke auf sich
lenken. Das Herzstück Trakehnens ist erhalten geblieben, dabei sollten der
abbröckelnde Putz, der fehlende Turm, die verotteten Fenster und die schadhaft
gewordenen Dächer zunächst zweitrangig sein. Hinter dem Trakehner Schloss ist
der ehemals repräsentative Park mit dem kleinen See einem Fußballplatz gewichen.
Auf ihm tummeln sich täglich viel Jugendliche. Sie gehören zu der Haupt- und
Mittelschule, die bereits nach Kriegsende in dem Landstallmeisterhaus
eingerichtet wurde. Den meisten Schülern, Kinder von dort freiwillig oder
zwangsweise angesiedelten Familien aus Kasachstan, Kirgistan und anderen
Regionen des ehemals riesigen Sowjetimperiums, dürfte bis dahin gar nicht
bekannt und bewusst gewesen sein, in welchem geschichtsträchtigen Haus sie
täglich unterrichtet werden."
Die
noch erhaltene Gebäudesubstanz lässt erahnen, welch eine Bedeutung und Grösse
dieses Trakehnen seinerzeit inne hatte. In dem einst imposanten Jagdstall von
150 Meter Länge hausen heute Rinder, die Fensteröffnungen sind mit Plastikplanen
verklebt. Die ehemalige Reithalle ist gänzlich unzugänglich gemacht worden, die
verbliebenen Gebäude und Ruinen erzählen ihre Geschichte weniger ob ihrer
heutigen traurigen Selbstdarstellung als vielmehr in ihrer Anordung zueinander
über dieses riesige verwachsene Areal verteilt - man begreift, dass dies eine
exzellent durchdachte, funktionierende und vor allem eigenständige Stadt von
grosser Bedeutung war. Geschichte zum anfassen eben und ein dicker Kloss im
Hals.
ehemaliger Zugang zum Reitburschenhaus
Die Abfahrt aus Trakehnen ist getragen von gemischtesten Gefühlen und grosser
Nachdenklichkeit. Wehmut eben und eine Spur von Trauer sicher auch - und doch
will sich niemand diesen Besuch und das Erlebte nehmen lassen - weil es eben
Dinge gibt, die gehen einfach tief unter die Haut.
Vor diesem Hintergrund erhalten die zahlreichen Besuche der übrigen Gestüte,
darunter Georgenburg bei Insterburg sowie das ehemalige Trakehner Gestüt im
heute polnischen Rastenburg (heute ein staatliches Hengstdepot mit vornehmlich
Kaltbluthengsten) eine ganz andere Bedeutung. Ganz besonders das polnische
Gestüt Lisky beschert sehenswerte Eindrücke einer zeitlosen Pferdezucht. Der
Kontrast zum pompös anmutenden Ogiery Romanowski könnte nicht grösser sein.
Der ostpreussische Diminutiv ist mittlerweile zu unserem liebsten Freund
geworden. Grossen Anteil hieran trägt unsere charmante polnische Reiseleiterin,
deren glockenreines Stimmchen die komplette Reisegesellschaft stets aufs neue
mit ihren Erzählungen begeistert:
"Mariellchen" wird zum geflügelten Wort und grundsätzlich fährt man hier in
einem "Autochen" und nicht in einem "Auto" dahin und überhaupt sind es von hier
nur einhundert "Kilometerchen" bis Königsberg...
Balsam für das Seelchen!
Die Reise findet ihren Abschluss mit einem ausgedehnten Aufenthalt in den
zauberhaften Masuren, eine einzigartige Landschaft in einem Polen, das sich ganz
zweifelsohne zu einer sehenswerten Perle unter den Grenzländern unserer Heimat
gewandelt hat. Nicht nur die Stakenfahrt in der unberührten Natur des Flüsschens
Krutynia weckt einhellige Begeisterung - hier lässt man die Seele baumeln und
fühlt sich einfach unbeschwert. Ein letztes Mal tönt das Jagdhorn unseres
Reiseleiters Bernd Klausing zum Ostpreussenlied - was anderswo kitschig anmuten
mag ist in diesen Wäldern wohl platziert, das kleine bisschen Gänsehautgefühl
gehört einfach dazu.
Herr
Klaus Hagen war 1993 als maßgebliches Gründungsmitglied des
Vereins der Freunde und Förderer des ehemaligen Hauptgestütsgestüts Trakehnen
e.V. bereit, den 1. Vorsitz zu übernehmen, den er mit großer Hingabe und Erfolg
ausgeübt hat. Ohne sein unerschütterliches Eintreten für uneigennützige Hilfe
zugunsten der dort lebenden Menschen und seinen unermüdlichen Einsatz bei den
baulichen Erneuerungsmaßnahmen wäre es für die zahlreichen Gäste und Freunde des
Trakehner Pferdes nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus anderen Teilen der
Welt, nicht möglich gewesen, nach Kriegsende überhaupt am Ursprungsort das 275-jährige
Gründungsjubiläum Trakehnens im Jahr 2007 freudig zu feiern. Anlässlich dieser 275-Jahrfeier wurde Herrn
Hagen die Freiherr-von-Schrötter-Medaille verliehen, eine besondere
Auszeichnung, die der Trakehner Verband zu vergeben hat.
Unbedingt lesenswert in diesem Zusammenhang ist der vollständige Bericht "Trakehnen ist
wieder eine Reise wert!" von Dr. Horst Willer
auf der Seite des
Trakehnen Vereins unter "Presse".
Zehn Jahre ist es her, als ich das
erste Mal in Ostpreussen war. Die Eindrücke waren so nachhaltig,
dass ich diese Reise gern noch einmal unternehmen wollte, wenn auch in etwas
abgewandelter Form. Insbesondere Danzig hatte es mir angetan, das
ich bisher nur aus Erzählungen von daheim kannte.
Fotoalbum Danzig Die hippologische Gegenwart jedoch sollte ebenso nicht zu kurz kommen und so bot es sich an, die Reise mit Erhard Schulte anzutreten, Trakehner Fachmann und leidenschaftlicher Freund der Geschichte Ostpreussens, seiner Menschen und Pferde, damals und heute. Es sollte sich als eine gute Entscheidung erweisen - die Beste. Erhards Erzählungen waren das Salz in der Suppe einer Reise, die tief unter die Haut geht. Sehenswerte Fotos und herrliche Landschaften im warmen Sonnenlicht sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Fahrt nach Ostpreussen keine romantisch verklärte Rosamunde-Pilcher Reise ist. Ostpreussen heute, insbesondere der russische Teil der weiten Exklave Königsberg, ist ein Widerspruch in sich. Dramatische Gegensätze prägen das Bild, auch wenn Teile des weiten Landes heute bestellt sind. Ein durchaus positiver Umstand, den ich mit Staunen zur Kenntnis genommen habe. Marktwirtschaft und letztendlich die Erkenntnis, dass Getreide bei stetig steigender Weltbevölkerung wertvolle Devisen einbringt, haben in den letzten zehn Jahren viele Hektar des fruchtbaren Brachlandes wieder in das verwandelt, was es einmal war: fruchtbares Acklerland. Das weiss man auch in China zu schätzen, politisch-strategischer Haupt-Importeur russischer Ernten. "Strategisches Brachland" sollte daher ein geflügeltes Wort unserer Reise werden für all die Flächen, die noch immer unbestellt ihr Dasein fristen. Inwieweit die eigene Bevölkerung von den bestellten Flächen profitiert, ist schwer nachvollziehbar. Vor den üppig mit Ost- und Westwaren gefüllten Supermärkten sieht man stets brave Russen sitzen, die die Ernte ihrer eigenen kleinen Gärten verkaufen, um so ihr Auskommen zu sichern. "EC-Karten werden heute überall akzeptiert", so stand es in unserem Reisebrief. Etwas leichtsinnig hatte ich daher nicht einmal Rubel oder Zloty getauscht. Gedanklich noch immer in den Hartwährungen der Achtziger und Neunziger Jahre unterwegs, hatte ich jedoch US-Dollarnoten dabei. Zugegeben, ein etwas schräges Accessoire für eine Reise wie diese, funktioniert hat es dennoch. Zwei Dollarnoten reichte ich dem freundlichen alten Herrn vor dem Supermarkt, der mir schon von weitem von den Augen abgelesen hatte, wie sehr mich seine Himbeeren in Versuchung führten ... Einen Halbliterbecher seiner süssen Himbeeren drängte der brave Mann mir geradezu auf, nachdem ich ihm etwas zögerlich meine verknitterten George-Washingtons in Papierform anbot. Feilschen wollte ich ganz sicher nicht mit dem braven Mann, dennoch habe ich mich im nachhinein sehr geschämt, nicht mehr gegeben und gekauft zu haben. Ganz sicher wollte ich seinen Stolz nicht verletzen, doch ein paar Dollars mehr hätten tütenweise frisches Obst und Gemüse für unsere Reisegruppe und seinerseits gute Geschäfte bedeutet. Doch dieser Gedanke kam mir erst später. Westliche Dekadenz muss angeboren sein und erklärt, wieso das bedrückende Bild der noch immer obszön anmutenden Plattenbauten Königsbergs inmitten der prunkvollen Neubauten nach westlichen Standards mich so fasziniert. Dramatische Gegensätze, da machte auch unser Fünf-Sterne Hotel keine Ausnahme. Der Blick von der Balustrade in den innenliegenden Speisesaal sorgte für reichlich Aaahs und Ooohs, auch unter uns Wessis. Parallel zur Ostseeküste führte unser Weg zunächst von Danzig nach Frauenburg. "Die kleine Gemeinde liegt direkt am Frischen Haff und bietet mit dem Frauenburger Dom und dem Nikolaus-Copernicus-Museum in der Domburg einen passenden Rahmen für den heutigen Reisetag. Der Besuch des Frischen Haffs mit Blick auf die Frische Nehrung soll an den Treck aus Ostpreußen über das zugefrorene Haff im Winter 1945 erinnern.", so stand es in unserem Reisebrief. Nicht darin zu lesen stand, wie greifbar Erhard uns diese Geschichte auf dem Steg am Haff im salzigen Wind der Ostsee nahebringen würde. Betroffenheit und Emotionen, wie sie uns auf dieser Reise zum steten Begleiter werden sollten. An der russischen Grenze war "Brüderchen Vladimir" hinzugestiegen, ein wahrhaft angenehmer russischer Reisebegleiter ohne allzuviel systeminherenter Doktrin, statt dessen informativ und häufig mit putzigen Anekdoten daherkommend. Anekdotisch sollten bald die Berge von Wassermelonen werden, die es überall am Strassenrand zu kaufen gibt. Importiert werden die grünen Kugeln aus den fernen südöstlichen Gegenden des weiten Reiches und eignen sich geradezu hervorragend als Wodka-Speicher. Beim Militär war Alkohol verboten, wusste Vladimir aus eigener Erfahrung zu berichten. Nicht verboten sind jedoch Wassermelonen, die die Familie zuvor mittles feiner medizinischer Spritzen gut mit Wodka gefüllt hatte und stets als Mitbingsel zum Kasernenbesuch dabei hatte. Nachdem man die gespritzten Mitbringsel ein paar Tage liegen gelassen hatte, bescherten sie den braven Soldaten im trostlosen Kasernenalltag durchaus Partystimmung. Vladimirs Geschichten sind eine echte Bereicherung! Tilsit, an der Grenze zu Litauen gelegen, war voller weiterer Ost-West Kontraste, und das nicht nur optisch. Die noch immer sensible Aufmerksamkeit der russischen Grenzposten nahe der sehenswert restaurierten Louisenbrücke bekam ich zu spüren, als ich ein Oldtimer-Zweirad fotografieren wollte, das vor dem Grenzübergang nach Russland wartete. Jedoch: "Fotografieren strengstens verboten!", die fuchtige Gestik und Mimik der russischen Grenzposten waren eindeutig. Doch wie das so ist, wenn man einem Kind etwas verbietet. Das Verbotene wird dadurch erst recht reizvoll. Weshalb ich meinen kleinen Ehrgeiz daransetzte, den martialisch anmutenden Grenzübergang aus kalten Kriegszeiten jetzt erst Recht ins Bild zu setzen (das Oldtimer Mobil war längst entschwunden). Unauffällig hantierte ich mit dem Sucher nahe dem Grenzzaun und staunte nicht schlecht, als plötzlich eine Grenzsoldatin wie aus dem Nichts hinter dem Zaun auftauchte, um mein Vorhaben energisch zu verhindern. Wie diese Frau mich hinter der Wellblechbaracke überhaupt hatte sehen können, ist mir ein Rätsel. Möglicherweise sind die Russen hinter Stacheldraht und wenig beeindruckendem Wellblech weit besser ausgestattet als die NSA? Ein echtes Highlight war unser russisches "Friistick" mitten im grünen Memel-Land. Kartöffelchen und Gürkchen und Zwiebelchen, der ostpreussische Diminutiv hatte es mir schon vor zehn Jahren angetan, er sollte uns auch auf dieser Reise stets zum willkommen anmutenden Begleiter werden. Ebenso hatte es mir der schlichte dicke Speck angetan, der in satten weissen Scheiben in einem kleinen Eimer daherkam und bei keinem russischen Frühstück fehlen darf. Ich schwelgte in Kindheitserinnerungen, als es diese Speckschwarten noch in Omas Kühlschrank gab und der Opa stets Omas Zorn auf sich zog, weil er das "Mariellchen" wieder scheibenweise von der Schwarte gefüttert hatte ... "Da waren schon wieder die Mäuse in Omas Kühlschrank!", und Opa grinste verschmitzt. Es war ein herrliches Picknick in der Sonne mit Blick auf die Memel und natürlich brauchte es Wodka, und reichlich davon, um der puren Kalorien Herr zu werden. Man entwickelt ein echtes Verständnis für die russische Kultur. Dem Memellauf folgend ging es weiter zu den imposanten Ruinen des ehemaligen Herrensitzes Althof-Ragnit der Familie Mack und dem einstigen Privatgestüt Lenken der Familie von Sperber. Hinter dichtem Gestrüpp in hohem struppigen Gras fanden wir unvermutet die verstreuten Grabsteine der Eheleute Sperber. Folgen banausenhafter Umstände, denn diese Steine hatten in die ehrwürdige ausgeräuberte Gruft gehört. Betroffenheit und Emotionen, da waren sie wieder. Wir lauschten den Geschichten einstiger Zuchterfolge der Familie, greifbar nahegebracht in der untergehenden Sonne im weiten Land. "Lenken war relativ klein, aber eines der renommiertesten Privatgestüte. Vor zwanzig Jahren war die Nachfrage nach stärkeren, schwereren Pferden gestiegen. Hans von Sperber, Besitzer von Lenken und ein Verwandter Anna von Zitzewitz’, züchtete weiter den klassischen, leichten Trakehner-Typus. Die Lenken-Trakehner waren berühmt für ihren Adel, ihre Eleganz und ihre leichten, mühelosen Bewegungen. Das Gut zwischen den Flüssen Memel und Szeszuppe war mit seinem hellen Sandboden und den sanft-hügeligen Weiden ideales Aufzuchtland...." Patricia Clough, In langer Reihe über das Haff Wir querten das Flüsschen Szeszuppe und liessen die weite Landschaft auf uns wirken. Der Abend brachte uns nach Kattenau, dem ehemaligen Sitz der Familie von Lenski, und zu den nördlichen Vorwerken Trakehnens, Alt-Kattenau, Alt- und Neu-Budupönen. "Anfang September 1990 hat sich für mich ein Wunsch erfüllt, auf den ich über 46 Jahre gewartet habe: ein Wiedersehen meiner Heimat Kattenau und Amalienau. Obwohl ich auf diesen Tag durch Berichte befreundeter Landsleute genügend vorbereitet war, die bereits im Jahre 1989 dort einen heimlichen Besuch machen konnten, war das eigene Erleben doch mehr als erschütternd. Unsere einst so herrliche, liebevolle und abwechslungsreiche Heimat mit den schönen Dörfern und Einzelhöfen existiert nicht mehr. Das Landschaftsbild hat sich völlig verändert. Man hat dem Land buchstäblich „die Seele genommen“. Rechts und links der Straße erstrecken sich große Flächen, die im Herbst verunkrautet wie Steppen im tiefsten Rußland wirken. Man sieht nur wenige Häuser und Dorfteile, die zum größten Teil unbewohnt und verfallen sind, dazwischen Häuser russischer Herkunft, die artfremd wirken und deren Anblick unser deutsches Auge beleidigt. Dann plötzlich mitten im Gelände die häßlichen Bauten von Viehställen eines russischen riesigen landwirtschaftlichen Großbetriebes. Diese Veränderungen machen vor allem den Landwirt, wie ich es bin, tief traurig. Riesige Flächen, die brach liegen, riesige Felder, die schlecht oder nur notdürftig bestellt sind. Ich habe den Boden und das Land richtig rufen und schreien gehört nach seinen alten, ehemaligen Bewohnern. Versöhnend für das Auge sind nur die wunderbaren Wege, Chausseen und Alleen, die mit herrlichen Eichen, Linden und Birken eingefaßt sind. Der Blick durch diese Wege in Fahrtrichtung wirkt wie der in einen natürlichen Dom. In solchen Situationen wird man stille; so auch ich. Ich habe die Hände gefaltet und meine Gedanken gen Himmel gerichtet: „Hier, großer Gott, hast Du ein Paradies versinken lassen!“ ..."
Dietrich
von Lenski-Kattenau 14. 11. 1909 - 1. 10. 1999), geboren auf Gut
Kattenau. |
Stadt der Gegensätze: Königsberg Blick vom Dom in Frauenburg, im Hintergrund das Frische Haff und die Nehrung Louisenbrücke Littauen, Grenzübergang nach Tilsit Russisches Picknick an der Memel, natürliche Landesgrenze. Links Littauen, rechts Russland. Althof-Ragnit, oben das Gutshaus, unten die Schmiede Kattenau Das barocke Tor ist alles, was von Reisch Perkallen übrigblieb. Unten: St.Bruno, Masuren Überfahrt nach Steinort auf dem Löwentinsee Quittainen mit Blick auf das Dörfchen Gruft in Dönhofstädt Gallingen (oben) Milakowo (unten) Schlobitten und Vorwerk Schlobitten |